Ihr werter Plagiatsgutachter hat seine Dokumentation knapp eine Woche lang schön brav zurückgehalten. Denn der Fall ‘gehörte’ und ‘gehört’ meinem wertgeschätzten Kollegen Martin Heidingsfelder, der mich vor genau sieben Tagen von seinen ersten Funden informiert hat. Nun hat Heidingsfelder allerdings selbst gestern auf Twitter eine ominöse Nachricht hinterlassen, und “Erbloggtes”, der irgendwie immer alles auch schon zu wissen scheint, lieferte heute morgen den Weiterdreh. Damit ist die Katze aus dem Sack, und die Sache gilt im Netz als publiziert.
Aus Heidingsfelders Twitter-Account
Worum geht es? Dazu zunächst eine kurze Chronologie:
* Am 15. Oktober 2008 publiziert der deutsche Philosoph Klaus-Jürgen Grün den kurzen Text “‘Effekte an sich’ – Sein-können wie Gott” im “IF-Blog”.
* Im Jahr 2010 promoviert der allseits bekannte Michel Friedman bei Klaus-Jürgen Grün mit der Schrift “Schuldlose Verantwortung“. Grün hat schon vorher mit Friedman wissenschaftlich zusammen gearbeitet und etwa 2008 den Sammelband “Entmoralisierung des Rechts” mit Friedman herausgegeben, zusammen mit dem ebenfalls allseits bekannten ehedem konstruktivistisch denkenden Hirnforscher Gerhard Roth (wir erinnern uns: “reales Gehirn” vs. “wirkliches Gehirn”). Der Text aus dem Blog findet sich in diesem Sammelband nicht.
* Im August 2013 entdeckt Martin Heidingsfelder nach dem Hinweis eines Professors, dass sich Grüns Blogbeitrag aus dem Jahr 2008 wortidentisch und ohne Zitat in der Dissertation Michel Friedmans aus dem Jahr 2010 befindet. Heidingsfelder spricht mit Grün, laut Heidingsfelder wird der Blogbeitrag in der Folge vom Netz genommen (Google Cache vergisst aufs Erste nichts!). Heidingsfelder zögert zunächst, was eine Veröffentlichung anbelangt.
* In den vergangenen sieben Tagen entdecken Heidingsfelder und ich zahlreiche weitere Textkonkordanzen zwischen Grün und Friedman (von zumindest zwei weiteren Quellen Grüns) und weitere Ungereimtheiten in der Dissertation Friedmans.
Der Fall verlangt also eine differenzierte Betrachtung. Die Schlagzeile lautet nämlich diesmal zunächst nicht: “Plagiatsvorwürfe gegenüber Michel Friedman: Hat er von seinem eigenen Doktorvater abgeschrieben?” Sie lautet schon eher: “Geheimnisvolle Textkonkordanzen zwischen Klaus-Jürgen Grün und Michel Friedman entdeckt“. – Gibt es so etwas in den Geisteswissenschaften, insbesondere in der Philosophie, dass nahezu identische Textsegmente als Versatzstücke sowohl in wissenschaftlichen Arbeiten (gedruckt und online publiziert) eines Doktorvaters als auch in einer Dissertationsschrift eines Betreuten auftauchen? Aus meiner Sicht ist dies, vorsichtig gesagt, äußerst ungewöhnlich. Jeder kann sich selbst ein Bild machen, ich habe für Martin Heidingsfelder die bisherigen Funde dokumentiert (noch kein Anspruch auf Vollständigkeit) und sie der Universität Frankfurt übermittelt. Dort scheint das allen herzlich egal zu sein, es kam bislang nicht einmal eine Eingangsbestätigung bei mir an.
Hingegen hat sich Doktorvater Klaus-Jürgen Grün bei mir gemeldet – mit einem beachtenswerten performativen Widerspruch: Er mailte mir, “die Konkordanzen” seien “aus dem bloßen Umstand zu erklären, dass ich in der Tat Texte von Herrn Friedman verwendet habe. Da aber für Blogs keine wissenschaftlichen Anforderungen gelten, gibt es für einen Plagiatsvorwurf gegen Herrn Friedman keinen Raum.” Der erste und der zweite Satz passen erkennbar nicht zusammen: Für einen Plagiatsvorwurf gegenüber Herrn Friedman gäbe es Grün zu Folge ja dann nicht deshalb “keinen Raum“, weil Grün einen der Texte 2008 auch als Blogbeitrag publiziert hat (und übrigens später auch in einem wissenschaftlichen Sammelband!), sondern weil Grün mit dieser Mail angibt, “Texte von Herrn Friedman verwendet” zu haben. Will hier ein Doktorvater mögliches wissenschaftlichen Fehlverhalten seines Ex-Dissertanten auf seine Kappe nehmen? Ist ihm klar, dass er damit selbst wissenschaftliches Fehlverhalten anzeigt? – Wie sind diese Texte tatsächlich entstanden, und warum wurden sie in der Folge so und nicht anders verwendet? Das ist es, was mich am Fall Friedman/Grün interessiert, nicht die mögliche Schlagzeile, sondern simpel und gut wissenschaftlich: die Wahrheitssuche.
Davon abgesehen teilt die Dissertation von Herrn Friedman ihr Schicksal mit zahlreichen anderen Arbeiten der vergangenen Jahre: Mitunter wurde Primärliteratur offensichtlich nicht konsultiert, sondern Bewertungen, zum Teil wörtlich, wurden in einem Fall von der FAZ abgeschrieben, in einem anderen Fall aus einer Buchrezension. Zitate wurden mitunter falschen Autoren zugeordnet, einmal befinden sich in der Arbeit seitenlange Wiedergaben eines anderen Autors mit zum Teil indirekter Rede, aber immer wieder auch ohne. Ein Wittgenstein-Zitat taucht, mit identischen Einschüben, so auch bei Grün auf, eine Referenz auf eine Habermas-Rede findet sich ebenso wörtlich, mit identischen Einschüben, bei Grün (für beides Dank an Martin Heidingsfelder). Eine Referenz auf eine frühere Arbeit Friedmans stimmt nicht: Friedman verweist auf S. 208 auf “Thesen dieses Kapitels”, die er schon früher publiziert habe, die seitenweisen wortidentischen Übernahmen beginnen aber schon mehrere Seiten zuvor. Aber hier gilt es wieder, zwischen Täuschungsvorwurf (etwa dem Vortäuschen einer Autorschaft) und schlechter oder schlampig verfahrender Wissenschaft zu unterscheiden.